M. Gisler: Paul Scherrer und die Anfänge der Kernforschung

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Title
Erzählte Physik. Paul Scherrer und die Anfänge der Kernforschung


Author(s)
Gisler, Monika
Published
Zürich 2023: Chronos Verlag
Extent
260 S.
Price
€ 38,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Arne Schirrmacher, Humboldt-Universität zu Berlin

Am 12. Dezember 1958 platzte die Bombe – oder eher die Bombenträume –, als die „New York Times“ auf der Titelseite von dem Schweizer Plan berichtete, Atomwaffen herzustellen. Jahrelang hatte man die Öffentlichkeit belogen und behauptet, dass das 1946 unter der Ägide Paul Scherrers gestartete Programm allein die Kernforschung fördern sollte. Die streng geheimen Pläne wurden indes erst 1988 begraben und Scherrers Ansehen erst lange nach seinem Tod im Jahre 1969 dadurch beeinträchtigt.

Während die Frage der Atombombe und der Kernenergie mit seinen auf Hollywood-Format getrimmten Akteuren regelmäßig ein breiteres Publikum bewegt, stehen doch immer nur die USA und Deutschland im Mittelpunkt, während Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion allenfalls eine Nebenrolle spielen. Welchen Platz aber haben kleinere Staaten wie etwa die neutrale Schweiz in dieser Geschichte eingenommen? In welchem Maße konnten sie eigene Atomprogramme verwirklichen? War Paul Scherrer der Schweizer Julius Robert Oppenheimer? (Und warum schlägt das Buch keine größeren Funken aus dieser Story?)

Zentrales Thema des Buches von Monika Gisler ist die Geschichte der Kernphysik und der Nuklearprojekte in der Schweiz von den 1930er- bis in die 1970er-Jahre. Der Spiritus Rector des schweizerischen Atomprogramms – wenn nicht die bestimmende Figur der schweizerischen Nachkriegsphysik überhaupt – war Paul Scherrer, der während vierzig Jahren, von 1920 bis 1960, als Professor an der ETH Zürich wirkte. Der Band soll deshalb auch dessen Biographie sein, was allerdings durch mehrere Faktoren erschwert wird: erstens durch Paul Scherrer selbst, zweitens durch den von der Autorin gewählten Ansatz und drittens durch die Umstände der Entstehung des Buches.

Zunächst kommt Paul Scherrer scheinbar aus dem Nichts und hinterlässt der Biographin wenig. Er stammt aus einfachen Verhältnisse in St. Gallen, absolviert die Eidgenössischen Handels- und Verkehrsschule und wird ohne Hochschulreife über eine Aufnahmeprüfung zum Studium an der ETH Zürich zugelassen. Er wählt Botanik, weil er gut zeichnen kann, dann der Wechsel zur Physik, da passiert Spannendes in der Zeit. Durch Heirat kommt er zu Wohlstand, den er nutzt, um in Deutschland auf die rasante Entwicklung der modernen Physik aufzusatteln: zuerst Studium in Königsberg, dann in Göttingen, wo er als Doktorand und dann Mitarbeiter von Peter Debye nicht nur das Glück hat, Namensgeber einer allgemein bekannten experimentellen Methode zu werden („Debye-Scherrer-Verfahren“ zur Strukturaufklärung pulverförmiger kristalliner Substanzen), sondern auch eine Professur in Zürich zu erhalten, die Debye als Berufungsbedingung dort ausgehandelt hat. Habitus, Kleidung und Autos prägen nun ein eloquentes, bürgerliches, eidgenössisches und vor allem für seine Studentinnen und Studenten sehr nahbares Auftreten. Mit dem Ausbau der ETH zur führenden Hochschule der Schweiz und bald auch als Institutsdirektor nimmt Scherrer eine zentrale Stellung in der Physik der Alpenrepublik ein und füllt die Rolle eines Wissenschaftsmanagers aus, der Universität, Industrie und Militär vernetzt, insbesondere wenn Faschismus, Krieg oder das Nachkriegsverständnis der Schweizer Neutralität die Wissenschaft fordern.

Der Biographin macht es Scherrer insofern schwer, als dass er seinen gesamten Nachlass vernichten ließ. Das Rohmaterial, aus dem häufig lebendige Lebensbilder nachgezeichnet werden, liegt nicht bereit und so werden die vorhandenen Nachrufe, Erinnerungen und Würdigungen genutzt und statt der persönlichen Perspektive schnell auf die seiner Funktionen gewechselt, die sich in der institutionellen Überlieferung nachvollziehen lässt. Das Buch versucht, „Scherrer in seinem Wirken zu erfassen und zugleich die Geschichte der Kernphysik – Pars pro Toto – durch seine Person zu beleuchten.“ (S. 11) Damit betritt die Autorin, die ein historisches Schreibbüro leitet, das sich hauptsächlich auf Unternehmensgeschichte und die Themen Energie und Umwelt spezialisiert hat, freilich schwieriges Terrain. Wie das Inhaltsverzeichnis schon andeutet, wird fleißig die bekannte Geschichte der Physik aufgearbeitet, um dann die Forschung und das wissenschaftspolitische Wirken Scherrers einzuordnen. Es werden Exkurse eingeschoben, etwa zur Kernspaltung, zu Zyklotronen oder zur Funktionsweise eines Kernreaktors. Helfen sollen auch Kurzbiographien, „sollte der Faden verloren gehen“ (S. 9), die neben einem Glossar im Anhang zu finden sind. Bei so viel Auf- und Abarbeitung lassen sich Doppelungen und Brüche kaum vermeiden; vor allem aber tritt die eigentlich interessante spezifisch schweizerische Entwicklung inklusive der spannenden Frage, wie die neutrale Nation ihr Atomprogramm zweigleisig für Bombe und Reaktor verfolgte, etwas in den Hintergrund.

Der Grund für diese mangelnde Stringenz der Darstellung liegt wohl in den Umständen der Entstehung des Buches. Der Wunsch nach einer Scherrer-Biographie seitens der Familie, der ETH und Beschäftigten des Paul-Scherrer-Instituts führte zu einer Art Crowdfunding-Kampagne eines eigens gegründeten Vereins, der die verschiedenen Interessen an einer Publikation zu befriedigen suchte (wie sich dem Sponsorennachweis und der Danksagung entnehmen lässt, S. 4 und 7). Offenbar führten immer neue Wünsche, etwa die Physik möglichst allgemeinverständlich zu erklären, grundlegende, aber weit bekannte Episoden der Physikgeschichte aufzunehmen oder Ordnung in die vielen erwähnten Schüler zu bringen – und wohl auch die Atombombengeschichte nicht zu prominent werden zu lassen – zu einem eher uneinheitlich strukturierten Text. Es ist zu vermuten, dass auch der defensive Buchtitel einen Kompromiss darstellt.

Wer das Buch bewusst gegen den Strich liest, vor- und zurückblättert, der kann indes eine spannende Geschichte der Schweizer Physik und des Schweizer Atomprogramms entdecken. Scherrer wurde nicht nur zu einem der einflussreichsten Naturwissenschaftler seines Heimatlandes, er konnte auch viele Lehrstühle an anderen eidgenössischen Universitäten mit – wie Kritiker sagten – zweitklassigen Schülern besetzen. Begünstigt wurde dies durch die schweizerische Politik gegen Überfremdung auch in der Wissenschaft, die es schon vor 1933 Nicht-Schweizern wie Scherrers renommiertem Kollegen Wolfgang Pauli in Zürich schwer machte, ihre Professuren zu behalten. Als Emigrantinnen und Emigranten aus Deutschland kamen, war die Schweiz kein Aufnahmeland; Scherrer, der helfen wollte, lernte nun die Kehrseite der Medaille kennen.

Paul Scherrer kann durchaus als Vater des schweizerischen Atombombenprojekts verstanden werden, denn er war es, der es in typisch eidgenössischer Manier schaffte, sein kleines, neutrales Vaterland gegen den Widerstand der Politik und insbesondere des Schweizerischen Schulrates in der Kern- und Beschleunigerphysik an die Seite der wissenschaftlichen Großmächte zu stellen. Scherrers Eloquenz wirkte Wunder bei Persönlichkeiten aus Industrie und Finanzwelt, und es gelang ihm Ende der 1930er-Jahre, Gelder für einen „Cyclotronfond“ zu sammeln, der bis 1940 den Bau von drei Beschleunigern ohne staatliche Subventionen ermöglichte. Hier begann auch die enge Zusammenarbeit mit Walter Boveri, dessen Firma BBC nach dem Krieg federführend im Reaktorprogramm wurde.

Scherrer hatte sich als Kernphysiker etabliert und die Schweiz war der Ort, an dem auch während des Krieges die deutschen Atomforscher ein und aus gingen. Dies machte ihn zur idealen Person, um den Amerikanern ab 1943 als „most reliable source“ (S. 118) Informationen über die Fortschritte an einer deutschen Bombe zu liefern. Im Gegenzug erhielt er zwar nicht, wie ursprünglich erhofft, ein Stellenangebot in den USA, konnte sich aber noch 1945 in den USA über die Fortschritte in der Reaktortechnik informieren und sich einen Wissensvorsprung sichern. Noch im Dezember 1945 wurden Richtlinien für die Studienkommission für Atomforschung formuliert, die den geheimen Bau einer Schweizer Atombombe vorsahen, und Scherrer erhielt umfangreiche finanzielle Mittel. Das Atomprogramm, aus dem schließlich 1960 der erste Schweizer Reaktor DIORIT hervorging, an dessen Bau Scherrer und Boveri maßgeblich beteiligt waren und der 20 Kilogramm waffenfähiges Plutonium produzieren sollte, ist an anderer Stelle beschrieben worden1, und auch die Autorin hat zusammen mit dem Journalisten Matthias Strasser 2021 einen sehr hörenswerten Radiobeitrag dazu produziert.2 Dies ist nun im vorliegenden Buch etwas ausführlicher, aber leider auch weit weniger attraktiv dargestellt.

Paul Scherrer war sicher kein J. Robert Oppenheimer und auch kein Werner Heisenberg, aber ein einflussreicher Wissenschaftsmanager in einem – hier schweizerischen – wissenschaftlich-militärisch-industriellen Komplex. Ein lohnender Vergleich hätte zu Walther Gerlach gezogen werden können, der im „Dritten Reich“ das deutsche Uranprojekt maßgeblich leitete. Beide standen wissenschaftlich nicht in der ersten Reihe, beide entdeckten ihr Talent als Wissenschaftsmanager, und beide versuchten, der Nachwelt nicht zu viel Einblick in ihr Handeln und Denken zu geben: Gerlachs Nachlass wurde akribisch sortiert, Scherrer ließ ihn gleich ganz vernichten. Es gäbe auch andere Parallelen zu erforschen, wenn es um die Rechtfertigungsstrategien der an Bombenprojekten Beteiligten geht. Auf Carl Friedrich von Weizsäcker geht das Narrativ zurück, die deutschen Atomwissenschaftler hätten sich glücklicherweise nie für die Bombe entscheiden müssen, da sie, anders als die Amerikaner, nicht über die Mittel zu ihrer Herstellung verfügten. Diese Argumentation wurde auch für das geheime Atomprojekt der Schweiz verwendet, wo es schließlich weder genügend Uran noch Geld gegeben hätte. Aber wusste man das von Anfang an? Hatte Scherrer lediglich geschickt die Gelegenheit genutzt, um an Forschungsgelder zu kommen? Leider werden solche Fragen in dem vorliegenden Buch nicht systematisch verfolgt und das Bild des vielleicht einflussreichsten Physikers der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg eher zu dem eines begnadeten Erzählers der Physik stilisiert, der – und das ist unbestritten – ganze Physikergenerationen in der Schweiz geprägt hat.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Jürg Stüssi-Lauterburg, Historischer Abriss zur Frage einer Schweizer Nuklearbewaffnung, Bern 1996, und Reto Wollenmann, Zwischen Atomwaffe und Atomsperrvertrag. Die Schweiz auf dem Weg von der nuklearen Option zum Nonproliferationsvertrag (1958–1969), Zürich 2004.
2 SRF-Podcast, Reihe Zeitblende: Paul Scherrer und die Bombe, Matthias Strasser (Autor), Andrea Christen (Redaktion), Monika Gisler (Beteiligte), 4.12.2021, https://www.srf.ch/audio/zeitblende/paul-scherrer-und-die-bombe?id=12100439 (06.10.2023).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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